Das Münchner Weißwurstgeheimnis

In der Metzgerzeile, mitten in München, am Viktualienmarkt, lag eine einzelne Weißwurst einsam in der Auslage. Sie war die Letzte ihresgleichen. Die anderen waren schon weg – verspeist, geplatzt oder von einer Breze adoptiert.

„War ja klar“, murmelte die Weißwurst. „Ich werde nie im Paar verkauft.“ Sie schaute ziemlich traurig.

Was aber keiner wusste: Diese Weißwurst war besonders. Sie trug ein uraltes Geheimnis in sich – ein echtes Wurstgeheimnis, weitergegeben von Generation zu Generation. Genauer gesagt: von Wurst zu Wurst.

Das Weißwurstgeheimnis.

Es ging ungefähr so:

Das allererste Mal, dass eine Weißwurst aufgetaucht ist, war eigentlich ein Versehen. Es war ein Metzger, der arbeitete für das Gasthaus zum ‚Ewigen Licht‘ am Marienplatz.

Dieser Metzger griff eines Tages zum falschen Wurstdarm. Und weil ihm das Ganze irgendwie komisch vorkam und er die Wurst vor dem Platzen bewahren wollte, hat er die Wurst nicht gebraten. Er hat sie einfach in heißes, aber nicht kochendes Wasser geschmissen. Zack: Die beliebte Münchner Weißwurst war geboren. Aus Versehen! Doch die Leute liebten sie.

„Das ist das Geheimnis“, sagte sich die Weißwurst und grinste stolz in sich hinein.

„Und zieh die Haut aus Respekt ab“, krächzte plötzlich unvermittelt eine leicht senile, beleidigte Leberwurst aus der Wurstauslage. Sie lag bereits mehrere Tage auf einem Silbertablett und war schon etwas angeschrumpelt. „Früher hat man uns noch mit Ehre gegessen! Ohne Haut dranlassen. Und ohne diesen neumodischen Ketchup!“ Die Weißwurst gruselte es. Lauwarm war unangenehm. Haut dranlassen: eine Frechheit. Aber Ketchup? Der Weltuntergang. Wenn sie nur daran dachte, platze sie fast vor Grant und Ärger.

Doch in diesem Moment ging zum Glück die Tür auf. Ein Mädchen kam rein. Stofftasche, zerzaustes Haar, mutiger Blick. In der Tasche: süßer Senf. Die Wurst fühlte sofort: Sie war’s. Die Richtige.

„Ich nehm die da“, sagte auch das Mädchen sehr bestimmt – und deutete auf die Weißwurst. „Die schaut aus als würd sie was sagen wollen.“

Die Verkäuferin grinste hämisch und verdrehte die Augen. „Als ob Würscht was sagen wollen! Kinder, Kinder …“
Doch die Weißwurst platzte nun wirklich fast – diesmal vor Freude.
„Jetzt bloß nicht im falschen Moment“, dachte sie. „Oh, das wäre wirklich peinlich.“
Aber wieder ging alles gut.

Zuhause erhitzte der Opa das Wasser im Kochtopf langsam, legte die zufriedene Weißwurst hinein und ließ sie dort einige Minuten baden. Dann legte er sie dem Mädchen fertig auf den Teller.

Das Mädchen setzte sich hin, zog der Wurst vorsichtig und gekonnt die Haut ab und tunkte sie in den Senf. Die Münchner Weißwurst fühlte sich glücklich wie noch nie. Endlich, so hatte sie das Gefühl, hatte sie den Sinn ihres Lebens gefunden. Das Mädchen nahm einen Bissen.
Und genau da – zack! – wanderte das Weißwurstgeheimnis über. Nicht in die Breze, nicht in den Opa. In das Mädchen.

Für einen Moment stand die Zeit still. Der Dampf aus dem Wursttopf kitzelte die Nase des Mädchens. Im Senf glitzerte kurz ein winziger Punkt. Und plötzlich wurde ihr ganz warm ums Herz.

Und da war ein Satz. Einfach so. Als wär er immer schon dagewesen.

 „Auch wenn es mal nicht gut läuft: Es kann trotzdem super werden. Hauptsache, du platzt ned gleich.“