Das vergessene Pfennigmuckerl

In einer alten Münchner Wohnung lag ein Brotkorb.
Und im Brotkorb: fünf Pfennigmuckerln.

Sie waren klein, fest, herzhaft und sie hielten fest zusammen.
Früher hatte man für eines einen Pfennig bezahlt. Daher der Name.
Einfach, aber gemeinsam stark.
So hatten’s die Leute gern.

Jeden Morgen legte die Mutter fünf Pfennigmuckerl auf den Tisch. Eins für jeden. Das Mädchen, den Buben, den Papa, die Oma und natürlich auch sich selbst.
Und das kleinste Muckerl wusste genau:
„Ich bin für die kleinen Hände. Ich bin das Muckerl vom Jüngsten.“
Das war seine Aufgabe. Und darauf war es stolz.

Doch an diesem Morgen kam alles anders.
Die Mutter hatte verschlafen, die große Schwester konnte ihre Socken nicht finden, der Papa suchte den Haustürschlüssel, und die Oma war krank. „Wir frühstücken heute Müsli, das geht schneller. Die Muckerl gibt’s heut Abend.“
Mitten in dem ganzen Durcheinander fielen die aneinandergebackenen Pfennigmuckerln vom Tisch, das kleinste wurde getrennt – und landete unter einem Stuhlbein. Die Mutter schimpfte kurz, hob die vier Muckerl auf und verstaute sie rasch im verschlossenen Brotkorb. 
Doch das kleinste blieb liegen – und niemand bemerkte es.

Die Wohnung wurde leer, der Flur still.
Nur das kleinste Pfennigmuckerl war immer noch da.
„Ich gehöre doch dazu“, flüsterte es.
Aber niemand hörte es.

Eine Weile lag es einfach nur da. Ganz still.

Doch irgendwann, als niemand zurückkam, als keine Hand es suchte, traf das Muckerl eine Entscheidung. „Ich will nicht nur warten. Ich will wissen, ob ich woanders gebraucht werde.“

Und so wackelte es ein bisschen, drehte sich ganz leicht – und rollte los. Über die Dielen, hinaus auf den Balkon, über die Schwelle in den Hof. Auf einem alten Brunnen blieb es liegen. Nicht verloren. Sondern unterwegs.

Ein paar Stunden später stapfte der kleine Junge durch einen Innenhof. Er war auf dem Heimweg vom Kindergarten – aber er hatte noch etwas vor.

In der einen Hand hielt er eine Schaufel. In der anderen: Auf Butterbrotpapier gemalt eine Schatzkarte mit krakeligen Pfeilen. Die Pfeile deuteten auf einen geheimen Ort. Den „Brunnen der Bäckerzunft“.

Seine Oma hatte erzählt, dass die alten Bäckerlehrlinge dort heimlich ihre Lieblingssemmeln versteckten – zum Mutproben-Essen oder für einen ganz besonderen Hunger.
Und tatsächlich: Da war er – überwuchert, moosig, fast vergessen. Und daneben, auf dem gemusterten Steinrand: etwas Rundes, Kleines, Bräunliches. Ein Muckerl. Unglaublich.

Das kleine Pfennigmuckerl erkannte sich kaum wieder – rund, verstaubt, aber genau hier, genau jetzt: ein Schatz.
Es war, als hätte sich die ganze Geschichte der Pfennigmuckerln in diesem einen Moment versammelt – die alten Zunfttage, der Duft aus den Backstuben, die Brotzeiten nach getaner Arbeit. Das Muckerl spürte etwas Glänzendes in sich – eine Mischung aus Abenteuerlust, Freude und einem feinen Stolz, gerade von diesem Jungen entdeckt worden zu sein.

Der Junge beugte sich langsam herunter, steckte es behutsam und voller Stolz in seinen Ranzen. Er wollte es später der Oma zeigen und dem Papa beweisen, dass er Unrecht hatte.

Am Abend saß die Familie wieder gemeinsam am Tisch, es gab Brotzeit. Vier Muckerln lagen nebeneinander, als der Junge seinen Schatz aus dem Ranzen holte.

„Das da“, sagte er feierlich, „war beim Brunnen der Bäckerzunft. Ganz allein. Und ganz mutig.“ Er legte es vorsichtig zurück zu den anderen. Und für einen Moment war es, als würde der Raum stillstehen.

Ein goldener Lichtstrahl fiel durchs Fenster genau auf das Muckerl, das plötzlich nicht mehr grau und verstaubt wirkte, sondern warm und gebräunt – mit einem fast unsichtbaren Glanz.

Es war nicht mehr nur das Kleinste. Sondern das, das am meisten erlebt hatte. Das, das Mut bewiesen hatte.

Ein Pfennigmuckerl mit Geschichte. Und mit einem Platz.
Die Oma schaute gleichzeitig erstaunt und tief bestätigt.
Der Vater nur erstaunt.
Und das Pfennigmuckerl lag genau da, wo es hingehörte: mittendrin.

Die Schwester stupste es an und flüsterte: „Abenteurer.“
Die Mutter lächelte.
Da sagte die Oma leise, aber mit Nachdruck:

„Ja, ja. Grad die Kleinsten können ganz schön überraschen.“

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